oder: wie Anjas Kurs mein Leben verändert hat
Putze ich heute schon das zweite Mal? Früh am Morgen, zeitnah nach dem Aufstehen, putze ich manchmal doppelt die Zähne. Nicht aus Gründlichkeit, sondern weil ich mich an das erste Putzen nicht erinnere. Beziehungsweise: nicht darauf geachtet habe, dass ich es gemacht habe. Mein Mehrfachputzen fällt mir auf, seit ich an Anjas Achtsamkeitskurs teilgenommen habe. Einen Sommer lang, zehn Kurseinheiten, verteilt über drei Monate hat er gedauert. Neben mir waren fünf weitere Menschen und Anja mit im Kurs. Ein Blick auf Schlüsselmomente im Kurs, die mein Leben verändert haben:
Was ist Achtsamkeit eigentlich?
„Was ist Achtsamkeit eigentlich?“, diese Frage habe ich Anja mehrfach gestellt. Als damalige Bürokollegin wurde sie meine Freundin. Ich wusste, dass sie Achtsamkeitstraining macht, aber nicht, was es damit auf sich hat. „Das ist persönlich und für jede Person anders. Komm in meinen Kurs und finde es heraus“, sagte sie. Ich war skeptisch – und neugierig. Aus Interesse machte ich schließlich mit. „Du wirst viel Zeit investieren“, kündigte Anja an. So war es. Jede Woche, drei Stunden abends Kurs reichten gerade aus, für das, was wir uns vorgenommen hatten: Gespräche, Übungen, Analyse unseres Verhaltens und die Besprechung der „Hausaufgabe“.
Gleich in der ersten Stunde machen wir einen Body Scan. „Schließe die Augen, wenn das für dich angenehm ist“, führt Anja in die Mediation ein. „Spüre, wie du Stück für Stück in deinem Körper ankommst … Wenn du bereit bist, lenke deine Aufmerksamkeit auf die Zehen deines rechten Fußes…“ Das Prinzip dieser Achtsamkeitsübung ist einfach: Schrittweise den ganzen Körper zu spüren, von den Füßen bis zum Kopf. Die Übung soll helfen, den eigenen Körper achtsam wahrzunehmen. In der Praxis ist das nicht so einfach: Im Kurs fängt eine Teilnehmende neben mir an zu schnarchen. Anstatt auf sich zu achten, entspannt sie sich beim Body Scan bis in den Tiefschlaf. Ich hingegen bin nervös: Mein Fuß ist eingeschlafen. Soll ich aufstehen? Den Fuß schütteln? „Spüre, welche Empfindungen du wahrnimmst. Nicht anstrengen. Einfach nur wahrnehmen“, sagt Anja. Also bleibe ich angestrengt liegen und lausche in meinen kribbelnden Fuß. Als wir nach rund 40 Minuten an der Stirn angekommen sind, bin ich immer noch wach. Ich fühle ich mich gelöst und stolz, dass ich die Übung durchgehalten habe.
Die Hausaufgabe: 40 Minuten mit mir alleine
Anja hat uns den Body Scan als Hausaufgabe mitgegeben. Begleitet von ihrer Stimme auf MP3, sollen wir die Übung selbstständig machen. Wer hat Zuhause 40 Minuten Zeit, seinen Körper durchzugehen? Ich habe sie mir genommen. Einfach „Stopp“ sagen, mitten am Tag und in den Körper hineinhören. Der Break hat mich gestresst. Die Zehen spüren, den Bauch, den Haaransatz. Am Ende hat mir die Pause oft geholfen, aus dem Alltagsstress rauszukommen. Inzwischen – so ganz ohne Hausaufgabe – mache ich keinen kompletten Body Scan mehr. Dauert mir zu lange. Aber manchmal komme ich bis zu den Knien. Und bin dann deutlich entspannter.
„Gedanken sind wie eine wildgewordene Herde von Affen im Kopf, die sich nicht bändigen lässt“, sagt Anja im Kurs. Anstatt den Spaziergang mit dem Hund zu genießen, überlege ich, was ich danach alles machen muss. Bei Zähneputzen plane ich, was ich anziehe. Und vergesse darüber, dass ich Zähne geputzt habe. Dieses Verhalten ist nicht achtsam. Darauf macht uns Anja aufmerksam. Die Lehre der Achtsamkeit empfiehlt, dass man „innehält und sich sanft und mitfühlend seinen Gefühlen zuwendet … Sie untersucht ohne sie persönlich zu nehmen…“ Frei interpretiert bedeuten diese Empfehlungen für mich: Ich versuche auf das zu achten, was ich tue. Nur das zu tun und nur daran zu denken. Das funktioniert nicht immer. Aber das ist nicht schlimm. Achtsamkeit klappt nicht immer so, wie man sich das vorstellt.
Auch bei Anja nicht: Einmal kam ich zehn Minuten vor Kursbeginn an. Ich wollte noch etwas entspannen und quatschen. Anja war auch schon da. Sie wollte sich noch etwas entspannen und NICHT quatschen. Als sie mich sah, entglitten ihre entspannt-besinnlichen Gesichtszüge in Richtung Stress. Sie hat sich umgedreht und den Blumenstrauß angestarrt, den sie gerade noch für den Kurs fertig machen wollte. Deutlich sichtbar atmete sie ein und aus. Annehmen. Einfach annehmen, dass die „zehn Minuten nur für Anja“ vor dem Kurs ausfallen. „Dann ist das jetzt so“, sagte Anja. Die Situation hat mir gezeigt, dass – wenn die eine Achtsamkeit nicht funktioniert – eine neue kommt. Statt der Achtsamkeit des Innehaltens kommt die des Annehmens und Weitergehens. Die restlichen sieben Minuten vor Kursbeginn haben wir gequatscht.
Wie ein verletzter Zeh zu Selbstliebe führt
Während der Zeit als ich Anjas Kurs besucht habe, habe ich mir beim Gartenarbeiten mit dem Spaten den großen Zeh verletzt. „Oh nein! Oje, oje“, wie ich meinen Zeh sorgenvoll und zugleich zärtlich umklammerte, verstand ich, was uns Anja am Kurstag „Selbstmitgefühl entwickeln“, nahebringen wollte. „Denk an eine Situation, in der du dir furchtbar wehtust. Denk dran, wie sehr du dich in diesem Moment um dich selbst sorgst. So viel Fürsorge solltest du dir selbst in deinem Leben entgegenbringen“, sagt Anja. Eine schöne Idee, lieb zu sich zu sein, anstatt sich verbissen von einer Aufgabe zur nächsten zu jagen… Wenn mein Herz vor Stress klopft und ich nicht weiß, was ich als nächstes tun soll, denke ich jetzt oft an meinen großen Zeh. Er ist längst wieder heil. Doch die lieben Gedanken an ihn kann ich an mein ganzes ich weitergeben.
Ein weiteres Schlüsselerlebnis im Kurs: Wir sind wieder bei der Meditation, auf der Yogamatte sitzend hören wir in uns hinein. Die Aufgabe: Schmerz und Körperempfindungen erspüren. Die unangenehmen Dinge nicht ignorieren, sondern sie bewusst wahrnehmen. „Gehe tief in dich hinein“, leitet Anja an. Ich nähere mich gedanklich dem Kopfbereich. Schlimm. Ich habe Tinnitus. In Stresssituationen piepst mein Ohr. Je stärker der Stress, desto lauter der Piepston.
Der Tinnitus passt auf mich auf
„Nimm den Schmerz an, fühle nach“, ermuntert Anja. Ich höre mir mein Pfeifen im Kopf an. „Sei ihm freundlich zugetan“, flüstert Anja. Es ist das erste Mal, dass ich mich diesem Tinnitus nicht abwehrend entgegenstelle, sondern ihm zuhöre. Dabei passiert etwas: das Pfeifen wird leiser! Seit diesem Augenblick gehe ich anders mit dem Tinnitus um. Wenn er kommt – oft an Tagen an denen die To-Do-Liste schon explodiert, ehe der Tag richtig beginnt – nehme ich den Tinnitus als Warnsignal an. Er sagt mir: es ist gerade anstrengend für dich, mach langsamer. Wenn es geht, schalte ich viele Gänge zurück, atme tief und lausche dem Pfeifen – solange bis es aufhört. Das kann ich inzwischen. Meine Voll-Stress-Tage sind weniger geworden. Und leiser.
Es sind solche kleinen Lebensdinge, die mir vom Kurs mit Anja geblieben sind. Dinge, die meinen Alltag positiver machen. Ich bin nicht zum Achtsamkeitsguru geworden. Ich meditiere nicht täglich und lese keine Achtsamkeitsbücher. Aber: Ich achte mehr auf mich selbst. Was ich denke, was ich tue. Ich nehme mich raus, wenn es mir zu viel wird. Wenn mir zweites Mal Zähneputzen in der Früh auffällt, freue ich mich über diese kleine Unachtsamkeit, denn: ich habe kein Karies. „Sie haben Zähne wie eine 20-jährige“, sagt mein Zahnarzt.