Ich schaue ganz genau hin. Nichts…
Es ist an irgendeinem Tag im Januar 2015. Morgens ist es am schlimmsten. Während die Welt in ihr Leben aufbricht, schleppe ich mich mit aller Macht bis ins Badezimmer. Stehe vorm Spiegel. Schaue ganz genau hin. Und sehe nichts. Wieder und wieder und wieder nichts.
ICH SEHE MICH NICHT!
Versteht das denn keiner? Da ist kein Bild, kein Mensch in diesem Sch… spiegel, nicht einmal eine Ahnung davon, was die anderen sehen, wenn sie mich ansehen… Jegliches Gefühl für mich, für meinen Körper, für meine Gefühle, mein Befinden… Weg. Wie ausgeknipst. Und das geht jetzt schon so seit Wochen…
Die Medikamente? Müssten eigentlich wirken… Und der Therapeut? Tut mit gut, aber helfen? Mit helfen, dass ich endlich wieder gesund werde? … Erst später werde ich verstehen, welch unglaublich großes Glück ich mit ihm habe …
…
Und so nimmt auch dieser Tag seinen Lauf… Grübeln am Vormittag, weitere endlose Grübelschleifen am Nachmittag. Zwischendurch Wut, Scham, Neid, Müdigkeit… Was hilft? Die Routine, die mein Mann mir gebaut hat… Sanft schiebt er mich an, wenn es Zeit ist, den Kleinen aus dem Kindergarten zu holen… Er macht das. Ich bereite mich darauf vor… Er bringt ihn mir…
Und dieser kleine Mensch, dieser wunderbare kleine Mensch findet Tag für Tag genau das richtige Tempo für mich… Für zwei / drei Stunden schaffe ich das. Dann “geht das Licht wieder aus” – wie ich es bezeichne… als würde jemand den Stecker ziehen… Der Mann merkt irgendwie, wann dieser Punkt erreicht ist und übernimmt… Er ist wunderbar. Irgendwie schafft er es, immer da zu sein… in den Momenten, wo er da sein muss…
UND ICH WEISS, WIE HART ES FÜR IHN IST UND BIN WÜTEND. AUF MICH. WEIL ICH IHM DAS ZUMUTE. UND AUF DIESE UNBESCHREIBLICHE KRAFLOSIGKEIT! DIESE LEBENSUNFÄHIGKEIT! DIESE GANZE SCHEISSE!
… irgendwann an diesem Abend Erleichterung. Weil auch dieser Tag vorbei ist… Ich darf unter die Bettdecke kriechen… Alles aus. Welt, bitte so bleiben…
Und dann doch der nächste Morgen. Einmal mehr werde ich mit Sonnenaufgang daran erinnert, dass ich alles verkackt habe. Und täglich grüßt das Murmeltier des Grauens. Wieder stehe ich vor dem Spiegel. Hebe matt den Blick… und sehe mich!
ICH SEHE MICH!
Ganz deutlich. Krank und traurig und hilflos schaue ich mir aus dem Spiegel entgegen. Und endlich kann ich es begreifen, … Ich habe eine Depression. Tränen schießen heiß aus meinen Augen… Und mir wird klar, dass das hier ein ganz wichtiger Moment ist. Eine Flut an Gefühlen überrollt mich, alles, was so lange “weggesperrt” war, bricht scheinbar gleichzeitig auf und ich weine und weine und weine… und spüre, dass der erste Schritt gemacht ist, um aus dieser Hölle rauszukommen…
AKZEPTANZ!
Und ich weine und weine und weine… und beschließe, mich nicht länger zu verstecken… Ich beschließe, die Fassade runterzureißen und die Verletzlichkeit zuzulassen. Weil ich das Gefühl habe, dass dies meine einzige Chance ist…
JA, ICH HABE EINE DEPRESSION.
Ich bin krank, schwach, müde, verletzlich, kein Fall für die Leistungsgesellschaft. Und ja, ich werde vermutlich Menschen enttäuschen, weil ich nicht (mehr) die Frau bin, die ich einmal war.
Die alle kennen. Und ich werde wohl auch nie wieder „gesund“ im Sinne von „wie vorher“.
…
Aber ich werde das hier überleben! Genau weil ich DAS verstanden habe. In diesem Moment. An diesem irgendeinen Tag im Januar 2015. Vor dem Spiegel.
Und weil da Menschen sind, die mich trotz allem lieben, stützen, mich aushalten und lassen, mir Zeit geben… Diese Reise voller Fragezeichen, Außenseiter-Momenten, Verletzungen und Stille hin in (m)ein neues Leben mit mir antreten.
Fortsetzung folgt.
Weitere Beiträge aus meiner Gedankenschnipsel-Reihe:
Gedankenschnipsel – Sommer 2014
Diagnose „Schwere Depression“ – Gedankenschnipsel Herbst 2014
Teilen macht glücklich:
5 Kommentare